Bücher
6 Juni 2024

Locus desperatus

von Mari Michele
Locus desperatus

Jeder hat sich früher oder später von etwas trennen müssen, von dem er dachte, es gehöre nur ihm: Aber könnten wir ohne das, was uns gehört, noch sagen, wer wir wirklich sind? Der Protagonist dieses Romans lebt in einer Wohnung, die mit viel Geschmack und ebenso viel Paranoia eingerichtet ist – zwei Eigenschaften, von denen man sich nur schwer befreien kann. Vor allem, wenn man plötzlich eine Räumungsaufforderung erhält, die aus dem Jenseits zu stammen scheint… Schließlich kann ein Spukhaus ein Fluch sein oder eine Gelegenheit, eine Bestandsaufnahme der eigenen Vergangenheit zu machen. „In dieser reduzierten Form war ich der König: meiner Dinge, meiner Sammlungen und damit von mir, der ich systematisch jedes meiner intimen Teilchen in diese Sammlungen übertragen hatte“. In der Philologie bezeichnet ein locus desperatus eine fehlerhafte und unkorrigierbare Textstelle, bei der der Philologe gezwungen ist, das Handtuch zu werfen, indem er sie mit dem so genannten „Kreuz der Verzweiflung“ markiert. Und der Anfang dieser Geschichte ist ein kleines Kreuz, das nachts mit Kreide auf eine Tür gezeichnet wurde. Eines Morgens, als er aus seiner Wohnung kommt, bemerkt der Protagonist dieses Zeichen über dem Guckloch des Hauseingangs: Wer könnte das getan haben und was bedeutet das? Der Mann wischt das Kreuz weg, aber am nächsten und übernächsten Tag taucht das Zeichen unerbittlich wieder auf. Das Rätsel spitzt sich zu, als dem Hausbewohner ein Tausch auferlegt wird: Jemand wird seinen Platz einnehmen, und er muss gezwungenermaßen umziehen. Doch mit dem Wechsel des Wohnsitzes wird er auch gezwungen, seine Identität zu wechseln: Alle Dinge in der Wohnung müssen sich entscheiden. Entweder sie fliehen mit ihm, oder sie gehen auf einen neuen Besitzer über – und beflecken sich mit Hochverrat. Denn jeder geliebte Gegenstand hat eine Seele und damit einen eigenen Willen. Seit jeher sind Häuser, in der Literaturgeschichte wie im Leben, der Ort, an dem sich alltägliche mit schicksalhaften Ereignissen vermischen. Das Haus, um das sich Locus desperatus dreht, ähnelt dem Hill House von Shirley Jackson oder Poes House of Usher: ein empfindungsfähiges Wesen mit einem ganz eigenen Charakter. Ein Ort, an dem das Unterbewusstsein derjenigen, die dort leben, nach langem Aufenthalt eins geworden ist mit Büchern, Drucken, Gegenständen und Kindheitserinnerungen. Und wer könnte besser als Michele Mari von den Sehnsüchten und Obsessionen für Fetische erzählen, die sich im Laufe eines Lebens angesammelt haben und sich mit dem eigenen affektiven Gedächtnis duellieren? Der Autor von Verderame und Leggenda privata liefert uns einen bizarren Abstieg in die Unterwelt und gleichzeitig eine schonungslose Taxonomie der Erinnerungen. Ein ebenso quälender wie unterhaltsamer Roman über die ultimative Bedeutung, die wir den Dingen geben: „Ohne meine Dinge wäre ich nicht mehr ich, und ohne mich wären sie nicht mehr sie“.

 

 

  • Verlag Einaudi
  • Erscheinungsjahr 2024
  • Seitenanzahl 136
  • ISBN 9788806264512
  • Ausländische Rechte valeria.zito@einaudi.it
  • Preise 18.00

Mari Michele

Michele Mari ist ein italienischer Schriftsteller, Übersetzer und Dichter. Zu seinen zahlreichen Büchern gehören unter anderem: Euridice aveva un cane (Bompiani 1993; Einaudi 2004), Tu, sanguinosa infanzia (Mondadori 1997; Einaudi 2009), Tutto il ferro della torre Eiffel (Einaudi 2002), 2007), Verderame (Einaudi 2007), Rosso Floyd (Einaudi 2010), Leggenda privata (Einaudi, 2017), Le maestose rovine di Sferopoli (Einaudi, 2021).

Locus desperatus
treccani

REGISTRIERUNG IM TRECCANI-PORTAL

Um immer auf dem Laufenden zu bleiben, was newitalianbooks betrifft