Interview mit Andreas Rötzer (Matthes & Seitz Berlin)
Autor: Maria Carolina Foi, Universität von Trieste

Andreas Rötzer, 1971 in München geboren studierte Philosophie in Passau und Paris. Nachdem er ab 1999 als Buchhalter für den Münchner Verlag Matthes & Seitz gearbeitet hatte, gründete er 2004 den Verlag Matthes & Seitz Berlin. 2017 wurde er von der Zeitschrift Buchmarkt zum Verleger des Jahres gewählt.
Matthes & Seitz Berlin hat ein Logo, das dem eines bedeutenden italienischen Verlags, und zwar Adelphi ähnelt. Hat das eine besondere Bedeutung oder handelt es sich um reinen Zufall?
Ob es reiner Zufall ist, kann ich gar nicht so genau sagen, weil ich natürlich weiß, dass Roberto Calasso und der Gründer von Matthes & Seitz, nämlich Axel Matthes, sich sehr gut kannten. Die Geschichte geht allerdings so, dass Axel Matthes sein Zeichen, also unser Logo, die eine Kanagamaske darstellt, in einer französischen Zeitschrift aus den 20er Jahren gefunden hat. Darin waren nordafrikanische Felszeichnungen abgebildet, unterschiedliche, die allerdings alle sehr plakativ sind. Eine davon hat er gewählt als Verlagslogo. Und dieses Logo soll symbolisieren, dass es im Verlagsprogramm um lebendige Vielfalt geht, gerichtet gegen die damals so empfundene Religion des Rationalismus. Das Logo von Matthes & Seitz ist inzwischen auch ein Emblem für die Global African Community geworden und in ganz anderen Kontexten sehr verbreitet, in Berlin beispielsweise findet man eine Form davon als Graffiti an vielen Wänden und Hauseingängen, wenn man die Augen offenhält. Heute stellt sich natürlich die Frage, ob unsere Verwendung dieses Zeichens als Logo eine Appropriation ist, in gewisser Weise ist es das, aber es ist auch so, dass das Zeichen in den letzten 50 Jahren eben zwei unterschiedliche Entwicklungen genommen hat.
Wann wurde der Verlag gegründet? Mit welchem Profil?
Matthes & Seitz ist 1977 gegründet worden gegen einen damals sehr marxistisch geprägten Mainstream in der Theorie. Im Grunde wollte der Verlag metaphysische Positionen wieder ins Gespräch bringen. Und darin ist er Adelphi sehr ähnlich. Auch in dem Programm kamen und kommen gemeinsame Autoren zu Wort. Antonin Artaud natürlich, Georges Bataille, aber auch Cristina Campo, Simone Weil, René Girard, Warlam Schalamow oder Emmanuel Carrère. Axel Matthes brachte aber auch unbequeme Klassiker wie den Marquis de Sade. Es wurden also Autoren veröffentlicht, die gegen eine gewisse Monotonie des Rationalismus angingen und den Versuch unternahmen, das Denken wieder vertikal zu verorten. Die Idee war also gegen das rein Physische das Metaphysische zu setzen. Genau das ist im Grunde der Kern des Programms gewesen, mit dem Matthes & Seitz in den 80er Jahren dann sehr schnell zu einer Art Kultverlag wurde und neue Autoren wie Jean Baudrillard, Botho Strauß oder Roland Barthes verlegen konnte.
Wann kamen Sie in Kontakt mit dem Verlag? Hat er sich unter ihrer Leitung verwandelt?
Ich habe sozusagen den zweiten Akt initiiert. 1999 bin ich dazu gekommen, als Buchhalter und habe nebenbei promoviert. Danach verkaufte Axel Matthes den Verlag an mich und seitdem bin ich in Berlin Verleger von Matthes & Seitz Berlin. Letztlich ging und geht es mir darum, diese Verlagstradition fortzuführen und in eine immer wieder neue Gegenwart zu transponieren, neue Positionen anzubauen, dies aber irgendwie in dem ursprünglichen Geist, der eben immer auch wild, schmutzig, unruhig und rebellisch war. Es ist nicht leicht, diese Widerspenstigkeit in einem Zeitgeist, der vermeintlich alles erlaubt, alles schluckt, sich einverleibt, aber auch schnell im Canceln ist, zu leben und damit als unabhängiges Unternehmen zu überleben.
Was meinen Sie genau mit ‚schmutzig’?
Den Schmutz, den ich meine, ist der unvermeidliche Überschuss, der das Leben erst zum Leben macht und doch so gerne kontrolliert, eingedämmt und weggeputzt wird, durch Moral, Konventionen etc.
Heute sehen die Rahmenbedingungen aber ganz anders aus als in den 80er Jahren. Wie möchte der Verlag dann ein bisschen irritierend wirken? Was empfinden Sie heute als Gegenbewegung?
Das ist genau der Punkt, eine ganz große Frage und eine ganz wichtige Frage, die ich mir tatsächlich immer stelle. Weil sich eben die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen so verändert haben, dass man mit diesen alten Positionen heute, die so sehr in die Gesellschaft eingedrungen sind, gar nicht mehr wider den Stachel löcken kann. Matthes & Seitz soll immer ein bisschen quer zum Mainstream stehen. Aber dazu muss man natürlich erstmal wissen, was der Mainstream ist. Und das ist ja klar: das ist eine extrem schwere Aufgabe. Vor allen Dingen, weil man ja gleichzeitig als unabhängiger Verlag, der sich über den Verkauf seiner Bücher refinanziert, gezwungen ist, ökonomisch erfolgreich zu sein. Und um ökonomisch erfolgreich zu sein, muss man im Grunde den Zeitgeist sogar affirmieren. Wenn man das nicht tut, muss man Glück haben oder sehr gut aufpassen, nicht in den ökonomischen Ruin zu laufen. Allerdings bin ich nicht ganz der Meinung meines Vorgängers, dass Qualität der Literatur und ihr ökonomischer Erfolg sich ausschließende Ziele sind. Ich zitiere, was Axel Matthes wohl in den 90er Jahren gesagt hat: Wenn wir uns auf den Bestsellerlisten finden, dann wissen wir, dass wir etwas falsch gemacht haben. Da ist etwas Wahres dran, aber es ist eben nicht die ganze Wahrheit. Und letztlich kommen wir ohne Bestsellerlisten nicht aus. Aber hier geht es eben um die Kunst der Mischung, die mit jedem Halbjahresprogramm immer von Neuem beginnt. Die Mischung, die Adelphi eben seit Jahrzehnten so grandios gelingt.
Wie viele Matthes & Seitz gibt es eigentlich? Der Verlag zeichnet sich insgesamt aus durch zahlreiche Reihen und unterschiedliche Verlage.
Seit 2004 gibt es Matthes & Seitz Berlin. Der 1977 gegründete Münchner Verlag hat damit sein Ende und einen Neuanfang gefunden. Seither haben wir in der Literatur mit Frank Witzel und Anne Weber zwei Gewinner des Deutschen Buchpreises, aber auch viele mit anderen Preisen ausgezeichnete deutsche Autoren wie Joshua Groß oder Philipp Schönthaler. Da ich aber meine Vorstellung von Verlagen Französisch oder vielleicht auch Italienisch geprägt ist, denke ich das Programm natürlich gerne in Reihen. Ich mag Reihen, um mich selbst und natürlich die Leser zu orientieren. Und deshalb gibt es z. B. eine Reihe Fröhliche Wissenschaft unter dem Slogan „Passt in jede Tasche, aber nicht in den jeden Kopf“ in der wir kurze Essays veröffentlichen, u. a. von Agamben, Girard, Byung-Chul Han, Heide Lutosch oder Jens Balzer mit einem aktuell sehr erfolgreichen Buch über das Phänomen Wokeness nach dem 7. Oktober. Es gibt die Reihe Naturkunden, die wir 2013 ins Leben gerufen haben und damit wichtiger Teil eines Naturbooms geworden sind. Und dann gibt es auch noch drei Imprints, die wir in den letzten 5 Jahren dazu genommen haben. Das eine ist die Friedenauer Presse, ein wunderbarer Verlag, der inzwischen fast 60 Jahre lang Programm macht, mit Autoren wie Vigevani, Babel oder Tschechow, heute auch so aufregende neue Stimmen wie Millay Hyatt oder Anna Katharina Fröhlich. Dann haben wir einen Verlag für deutsche junge Gegenwartsliteratur gegründet, Rohstoff. Das ist ein wunderbares Verlagsprojekt, das der jungen experimentellen, riskanten Gegenwartsliteratur eine Plattform bietet. Wir veröffentlichen darin Texte, die sonst in der aktuellen deutschen Verlagslandschaft kaum Aufmerksamkeit bekämen. Der interne Projekttitel war Die Unverkäuflichen, und zwar im doppeldeutigen Sinne. In dem einen Sinn die moralisch unverkäuflichen, aber auch die ökonomisch sagen wir mal mindestens schwer verkäuflichen. Dementsprechend bescheiden sind die Startauflagen, aber auch die Ladenpreise, von 6 bis 12 Euro, wir wollen, dass diese Texte auch von Menschen gelesen werden, die sich nicht so ohne Weiteres Bücher für mehr als 20 Euro leisten können. Interessanterweise entwickelt sich gerade einer dieser Texte zum Bestseller oder zum sehr gut laufenden Titel: Hermelin auf Bänken von Patrick Holzapfel. Das dritte Projekt ist der August Verlag. Den haben wir vor ein paar Jahren dazu genommen, um unser Wissenschaftsprogramm stärker auszubauen.
Was für italienische Autoren werden vom Verlag den deutschen Lesern vorgeschlagen?
Also es gibt zwei große Italiener in der Backlist, im alten Programm von Axel Matthes. Das eine ist Cristina Campo, und d’Annunzio ist der andere, den Axel Matthes sehr gepflegt hat. Ich selber wäre gerne der Verleger von Italo Svevo. Der aber ist natürlich längst auf Deutsch erhältlich. Wir haben uns immer eher aus Italien zurückgehalten, weil es andere Verlage gibt, die da einen italienischen Schwerpunkt haben. Aber weil es so viel zu entdecken gibt in der italienischen Literatur, kommt man natürlich, wenn mal Literatur liebt, nicht darum herum, Autorinnen wie z. B. Maria Messina oder Anna Maria Ortese neu zu verlegen. Sie erscheinen in der Friedenauer Presse, die damit in Zukunft auch einen kleinen italienischen Schwerpunkt haben wird. Bei Matthes & Seitz Berlin erscheint derzeit Furio Jesi in einer kleinen Werkausgabe. Auch Giorgio Agamben, Donatella Di Cesare und Remo Bodei sind gut vertreten. Und unser besonderes Prunkstück ist eine vierbändige Gesamtausgabe des Zibaldone von Leopardi. Auf diesen vielleicht wichtigsten italienischen Dichter und philosophischen Essayisten des 19. Jahrhunderts, dessen Werk in Deutschland noch so gut wie nicht angekommen ist, sind wir besonders stolz und stellen ihn gedanklich neben Friedrich Nietzsche, der eine Art geistiger Pate des Verlags ist. Außerdem freue ich mich sehr auf die Kriegstagebücher von Carlo Emilio Gadda, übrigens im Original auch bei Adelphi.
Sie verlegen gerne Klassiker, gerade aus dem Italienischen, warum?
Erstens bin ich ein Leser, der sehr gerne Abgehangenes liest. Ich lese gerne Klassiker oder speise mich aus Klassikern. Ich finde wichtig, dass man Klassiker liest, um mit anderen Epistemen, Weltsichten, Philosophien, Anschauungen konfrontiert zu werden. Das ist ja eine persönliche Präferenz. Dann ist die italienische Gegenwartsliteratur für mich als jemand, der italienisch nicht flüssig liest, doch ein schweres Terrain, so dass wir uns eher auf die Klassiker konzentrieren, schon aus Kompetenzgründen.
Judith Schalansky ist eine Erfolgsautorin, die auch als Herausgeberin der Reihe Naturkunden mit ihrer wunderbaren Grafik bekannt wurde, sie wurde u.a. auch mit dem Premio Strega Europa 2020 ausgezeichnet.
Für den Verlag war die Buchgestaltung seit den 80er Jahren extrem wichtig. Das heißt, gut gemachte Bücher sind eine Verlagstradition. Ich wollte immer, da ich quasi im Antiquariat sozialisiert wurde, wo ich lange gearbeitet habe, Bücher machen, die eine Art Antiquariatswert haben. Das heißt Bücher, die in 50 Jahren im Antiquariat noch teuer gehandelt werden. Das ist mein Ideal von Buch, das sind die Bücher, die ich machen möchte.
Diese Kombination von Rohstoff, wo auch KI-Literatur einen Ort hat, und diese anspruchsvolle Verlagstradition weiterzutragen und zu verwandeln: Darum geht es Ihnen?
Ja, Zukunft und Gegenwart in ein produktives Verhältnis zu bringen, darum geht es mir im Verlagsprogramm, über das man als Motto ein Zitat von Donna Haraway stellen könnte: Staying With the Trouble.
